„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, sagte 1904 der Schriftsteller Franz Kafka. Das Buch „Konsum – warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“, von Carl Tillessen, ist auf dem besten Weg, dies zu erreichen. Was die schockierende Lektüre über die Feiertage bei mir ausgelöst hat, und wie wir unseren Konsum künftig anders gestalten können: 10 Learnings aus der radikalen Konsum-Kritik des Mode- und Trendanalysten.

Das Buch „Konsum“ ist ein wichtiges Buch. Das Buch „Konsum“ ist ein schmerzhaftes Buch. Ich musste es immer wieder aus der Hand legen, weil es an meinen grundlegenden Verhaltensweisen rüttelte.

Es ist wie der Blick in den Spiegel nach einer durchzechten Nacht, und mir gefällt ganz und gar nicht, was ich im Spiegel sehe.

Der Konsum-Kater schaut mich böse an und lässt mich rätseln, warum ich abends auf dem Sofa liege und im SALE skandinavische Kleidung online bestelle, die am anderen Ende der Welt in Bangladesch genäht worden ist. Warum wollte ich unbedingt diese Prada-Tasche haben, die dieser Influencer vergangenes Jahr auf vielen seiner Fotos getragen hat? Und wie kann eigentlich mein Bankkonto noch mit meinem ganzen Konsum mithalten? Ich sollte mal meine gesamten, vergangenes Jahr geshoppten Kleidungsstücke aufs Bett werfen und ein Foto machen. Das traue ich mich nicht. Das Bett würde man vermutlich unter dem Kleiderberg nicht mehr sehen.

Carl Tillessen kommt aus der Mode. Betriebswirt, eigenes Modelabel („FIRMA“), Trendanalyst für das Deutsche Modeinstitut – und jetzt Buchautor. Bestseller sogar.

Carl Tillessens Konsum-Kritik

Er erklärt in seinen ersten Kapiteln die Hintergründe, warum es zu dieser abstrusen Situation auf meinem heimischen Sofa gekommen ist. Im Grunde legt er sich mit allen an: mit den Marken, mit den Online-Shops, mit den Fachgeschäften. Ich bezweifle, ob noch irgendjemand aus der Branche gern mit ihm künftig Essen gehen möchte. Doch die Wahrheit ist zumutbar, sagte einst die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, deshalb muss auch ich sie hier auf Style Statements schreiben. Denn auch wir Blogger und die Influencer tragen unsere Mitschuld daran, dass der Konsum längst abgehoben ist vom Notwendigen und vom Nutzen.

Konsum
Foto: Unsplash, Jules D.

Die Mitschuld der Blogger und Influencer

Im Grunde sind es zwei große Entwicklungen, mit denen wir Menschen in der first world überfordert sind: die Globalisierung und die Digitalisierung. Die eine hat den Weg dafür geebnet, dass wir billig Kleidung vom anderen Ende der Welt in unsere Läden und Warenkörbe bekommen – zu einem Preis, der längst entkoppelt ist von der Entfernung, von den Umweltschäden und von den Ungerechtigkeiten, die die Arbeiter in den Fabriken erleiden. Die andere ist die 24-stündige Verfügbarkeit von allen Waren auf der Welt. Es ist wie für einen Alkoholiker in einer 24-Stunden-Bar: An den Sprit kommt er zu jeder Zeit ran. Was sollte ihn also aufhalten, den Arm auszustrecken? Was mich, auf den Kauf-Button zu klicken?

Wir können uns aufhalten. Ich ertappe mich bei der Lektüre, wie ich das Zerrbild der Konsumgüter-Industrie nicht mehr ertrage. Carl Tillessen gewährt keine Verschnaufpause. Von Kapitel zu Kapitel setzt er noch eins drauf. Alles fügt sich zusammen, jede einzelne Entwicklung verstärkt die verrutschte Gesamtsituation, dass wir längst kaufen, was wir gar nicht brauchen.

„Überkonsum“, nennt er das. Und „kollektive Kaufsucht“.

Ich blättere ans Ende und lese, was ich als Verbraucher tun kann:

  1. Ich bin bereit, 2021 ein paar Euro mehr auszugeben für grüne Mode mit tatsächlich fairen Produktionsbedingungen. Das ist mein bescheidender Beitrag, das richtige System zu unterstützen. Aber wenn es viele tun, wird es viel bewirken. „Vote with your Dollars“, schreibt Carl Tillessen.
  2. Ich unterstütze Vielfalt und damit auch die „bricks and mortals“-Läden in der Innenstadt: Die Multi-Label-Stores, die nicht nur eine Marke verkaufen. Sie stellen ein wertvolles Angebot zusammen, das uns wählen lässt. Wusstest du, dass du in der Suchmaschine längst nicht mehr wählen kannst? Google verkauft die ersten Shopping-Plätze. Wer „Turnschuhe“ eingibt, sieht nur die größten Player. Denn die haben für die Treffer bezahlt. Und wusstest du, das 20 Mode-Konzerne 97 Prozent des Marktes auf sich vereinen?
  3. Ich suche wenn möglich Alternativen zu Amazon: Wir nähren mit dem ständigen Bestellen bei dem Online-Versandweltmeister ein Monopol, das uns als Verkäufer bald zum Nachteil gereichen könnte. Denn Anbieter-Vielfalt bedeutet Wettbewerb und damit bessere Preise und Bedingungen für Käufer.
  4. Ich möchte weg vom Marken-Fetischismus: Ein Kleidungsstück kann auch ohne Brand gut sein – und ein Kleidungsstück mit Brand kann auch richtig schlecht sein. Ich habe schon viele dieser Erfahrungen gemacht, dass eine teure Marke kein Garant für Qualität ist. Warum das so ist, steht in Carl Tillessens Buch.
  5. Der Preis ist kein Garant für Qualität und faire Arbeitsbedingungen mehr: Auch ein 299 Euro T-Shirt einer Luxusmarke kann in der Qualität und Fairness leider heutzutage schlechter abschneiden als ein mittelpreisiges T-Shirt. Denn Luxusmarken stecken viel Geld in die Marketing-Maschinerie und sparen ebenfalls am Produktionsprozess. So entlarvten Journalisten, dass bei Luxusmarken in Italien asiatische Arbeiter am Stadtrand in Fabriken sitzen und die Mode im Akkord nähten wie in einem Entwicklungsland. Ich bemühe mich also, bei der Ware mich nicht vom Namen blenden zu lassen, sondern hauptsächlich auf die Qualität zu schauen: auf die Verarbeitung, auf die Knöpfe, auf den Stoff. Das Produktionsland ist kein Garant für Qualität. Ob Made in Italy oder Made in Bangladesh.
  6. Ich kaufe keine Mode mehr, die so viel wie ein Coffee-to-go oder ein Kino-Ticket kostet: Die Qualität ist fast immer mies – und es sagt schon der gesunde Menschenverstand, dass unter diesen Produktionsbedingungen niemand als Arbeiter fair bezahlt wird. „Wer billig kauft, kauft zweimal“, diesen Spruch musste ich beim Modekauf zuhauf feststellen. Die billigen Sachen sahen auf den ersten Blick gut aus, gingen aber nach mehrwöchigem Tragen kaputt. Lieblingshosen rissen auf, Lieblingshemden gingen ein oder verblassten. Was soll ein solcher Kauf, wenn uns die Sachen dann wirklich beim genussvollen Tragen kaputt gehen? Sie sind gar nicht mehr darauf ausgelegt, lange zu bestehen.
  7. Ich vermeide Plastik, wo es nur geht: Keine unnötigen Tüten mehr im Geschäft, kein Plastikdeckel für den Coffee-to-go. Warum ich allerdings auf der Autofahrt nach Berlin damit anfangen musste, ist mir ein Rätsel. Als Autofahrer ist der Deckel leider doch übelst praktisch.
  8. Ich bin mir meiner Verantwortung als Blogger und damit Influencer bewusst: Was ich auf Instagram trage, beeinflusst andere Menschen. Ich werde deshalb weniger auf Marken setzen und mehr auf Kleidung, die mich ihrer selbst überzeugt. Wer wissen möchte, woher das Teil kommt, kann mich fragen. Ich möchte aber nicht länger kostenlos die Luxus-Waren-Industrie befeuern, die längst an unserem Konsumwahn so gut mitverdient, dass der Chef von LVMH der drittreichste Mann der Welt ist. Armancio Ortega, der Chef von Inditex und Zara, ist übrigens der sechsreichste Mann der Welt. Diese Nähe der Rangfolge zeigt, wie Mode an ihren Extremen funktioniert und sich die Mittelschicht aufreibt.

Marken zum Billigpreis – geht das gut?

Karl Lagerfeld hatte es in den Nullerjahren vorgemacht: Karl Lagerfeld und H&M vertrugen sich prächtig. Die einen gaben den Namen, die anderen die günstigen Produktionsbedingungen. Noch heute kennen wir das Prinzip Marken zum Billigpreis bei entsprechenden Ketten, die die Klamotten wie auf dem Kleiderfriedhof präsentieren und sich die Kunden gegenseitig die letzten Teile aus den hinter sich hergezogenen Wägelchen klauen. Wir wollen die großen Namen für unseren Shopping-Effekt (Belohnung) und den kleinen Preis für unser Schmerzzentrum (Tut nicht weh).

  1. Mein Selbstwert setzt sich nicht aus meinem Konsum und Likes zusammen: „Ich kaufe, also bin ich (dabei)“ – dieses Kauf-Credo müssen wir 2021 endlich mal ablegen. Es ist die ewige Fortsetzung der Schulhof-Problematik, die richtigen Schuhe, die richtigen Jeans anhaben zu müssen, um mithalten zu können. Ich möchte diesen Kreislauf durchbrechen und opponieren, wenn mich Menschen gezielt fragen, welche Marke das ist, die ich da trage.
  2. Anfang der 1970er haben wir noch für Kleidung 10 Prozent unsres Einkommens ausgegeben: Heute sind es gerade mal 5 Prozent. Das führt zu der seltsamen Entwicklung, dass wir Urlaubssachen bei der Abreise im Hotel zurücklassen. „Wir haben den Respekt verloren vor diesen Teilen, die man einfach im Hotel lässt, weil es sich nicht lohnt, sie mit nach Hause zu schleppen“, sagt Carl Tillessen. Das ist wirklich absurd, dass es so weit gekommen ist. Ich werde meine gekauften Dinge künftig mehr zelebrieren. Das tue ich schon jetzt, indem ich sie wertschätze und würdige.

Als Letztes sei noch gesagt, dass trotz aller Mode-Begeisterung und allen Teilens von schönen Dingen auf Instagram und Co. der wirklich wichtige Satz gilt, den der Dalai Lama gesagt hat und mit dem abschließen möchte, weil er mich wirklich lange beschäftigt hat und immer noch beschäftigt:

Menschen wurden erschaffen um geliebt zu werden.
Dinge wurden geschaffen um benutzt zu werden.
Der Grund warum sich die Welt im Chaos befindet,
ist, weil Dinge geliebt werden und Menschen benutzt werden.

Warum ich hier mit diesen Zitat abschließe: Als in Bangladesch 2013 die Fabrik Rana Plaza einbrach und mehr als 1.000 Arbeiter damit in den Tod riss, kochten die unfairen Produktionsbedingungen in den Medien hoch. Auch Primark ließ in der Fabrik nähen, geriet damals mit in die Kritik – und verzeichntete trotzalledem im selben Jahr einen Umsatzzuwachs von rund 20 Prozent.

Sagt mir eure Meinung:

Wie geht ihr mit dem Thema Konsum 2021 um? Welche Vorsätze habt ihr fürs neue Jahr, euren Konsum zu überdenken oder anders zu gestalten? Ich freue mich auf eure Kommentare.