„Masculinities – Liberation through photography“ (Befreiung durch Fotografie) heißt die Ausstellung im Gropius-Bau, die noch bis zum 10. Januar 2021 zu sehen ist. Ein hochtrabender Titel. Kann die Ausstellung mit 300 Kunst-Arbeiten von 50 internationalen Künstlern dieses Versprechen halten? Ich war zuerst bestürzt – und dann überrascht.

Neulich warf ein Freund von mir zufällig einen Blick in meine Schmuck-Box. „Du hast ja so viele Ketten wie eine Frau!“, stellte er mit Erstaunen fest. Er sagte das vollkommen neutral. Keinesfalls als Beleidigung. Ein Kompliment war es aber auch nicht. Zumindest fasste ich es nicht als solches  auf. Die Herabsenkung der eigenen Weiblichkeit und Aufwertung der Männlichkeit von anderen Männern ist ein ewiger roter Faden im Leben eines Mannes.

Jungs beleidigen sich als „Schwächling“, „Mädchen“ oder „Schwuchtel“ – zwischen Männern schwelt schnell eine gewisse Rivalität und Wettbewerbsstimmung. Und im schlimmsten Fall werden Frauen – abwesend oder anwesend – abgewertet. Umso mehr freute ich mich über die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, die sehr erfolgreich in den USA lief und nun zu uns nach Deutschland kommt. Gibt sie einen neuen Blick auf die Männlichkeit? Versöhnt sie mich mit meiner eigenen Männlichkeit, die irgendwie weniger stark ausgeprägt ist als bei anderen Männern? „Es wird Zeit, dass das tradierte Männlichkeitsbild hinterfragt wird“, bestätigt ebenfalls die ZEIT. „Viele Männer suchen eine gesellschaftliche Neuorientierung und wünschen sich, von dem Erwartungsdruck, der traditionell auf ihnen lastet, befreit zu werden.“ Und die taz setzt sogar einen drauf:

„Es steht nicht gut um ihn, den Mann. Er gilt als Modernisierungsverlierer, der von toxischen Vorbildern gelenkt wird.“

Das waren die Ausgangsfragen, mit denen ich mich in die 45-minütige Warteschlange einreihte. Trotz Online-Tickets war der Andrang enorm. Die Besucher ließen sich mehr Zeit als gedacht durch die umfangreiche Ausstellung zu gehen. Gleich zu Beginn begrüßten mich vier Hänge-Hintern von über 70-jährigen weißen Männern. Schlaff, behaart, breiig; so zeigten sie an, wo es mit der Männlichkeit hingeht: bergab.

Männlichkeit
Ausstellung Masculinities through liberation. Foto: JO

Der britische Fotograf John Coplans hat sich selbst im Alter fotografiert. Alle vier Hintern sind seine. Nur mit ein paar Jahren Unterschied. Auf Männlichkeit wirft die Ausstellung in den ersten Räumen einen zerstörerischen Blick: Die archetypische Darstellung von Männlichkeit mit muskulösen Körpern à la Arnold Schwarzenegger im Hollywood-Film und Cover-Boys von Herb Ritts, mit nacktem Oberkörper und schweren Autoreifen in der Hand, nehmen die Ausstellungsmacher ironisch auseinander.

Das bloße Nachahmen ist keine Männlichkeit

Der männliche Körper mit Six-Pack, V-Figur und muskulösen Armen stellt Männlichkeit dar. Doch wer Männlichkeit auf diese oberflächliche Weise imitiert, ist noch lange kein Mann.

Die Ausstellung entlarvt diese Vorbilder für viele Männer als Kunst-Figuren ohne Kern. Als verzweifelte Antwort in den 1980ern auf zum Beispiel die HIV/Aids-Epidemie. Herb Ritts, selbst HIV-positiv, stellte bewusst den gesunden Männerkörper vor die Kamera. Doch auch Frauen können muskulöse Männer sein, wie ein Transgender-Mann seine Körperverwandlung von der Frau zum Mann zeigt. Und weniger später ertappt man sich beim anerkennenden Blick von Männerkörpern, die in Wahrheit verkleidete Frauen sind.

Männlichkeit
Israelische Soldaten, fotografiert von Adi Nes, Foto: JO

Stück für Stück wird diese Männlichkeit dekonstruiert:

  • Militärisch sanktionierte Männlichkeit unter israelischen Soldaten bekommt überraschend homosexuelle Züge, wenn Soldaten im Kreis gemeinsam Wasser lassen oder müde auf der langen Busfahrt den Kopf anlehnen.
  • Auf einem Video-Bildschirm nässt sich ein Mann in Dauerschleife beständig ein.
  • Das Bild des starken, stets gesunden Mannes – es ist porös und gescheitert.

So hätte man niemals die Geschichte der Weiblichkeit in einer Ausstellung begonnen. Man hätte sie nicht als Niedergang, sondern als Erfolgsgeschichte erzählt. Nach zwei Räumen fange ich innerlich an zu grollen und die Ausstellung zu hinterfragen. Warum muss ich mich als weißer europäischer Mann schlecht fühlen? Doch dieser Eindruck trügt; denn nicht die Männlichkeit an sich ist im Verfall – die Geschichte des mächtigen weißen Mannes muss endlich neu geschrieben werden.

Und das ist die Stärke der Ausstellung: Über die Schwäche des Mannes nachzudenken und wie diese Schwäche in das moderne Männlichkeitsbild eingeschrieben werden muss.

Männer dürfen:

  • nicht-jugendlich,
  • nicht-stark und
  • nicht-mächtig sein.

Männer dürfen folglich:

Toxische Männlichkeit
Foto: Ausstellung Masculinities, JO

Wir sind mit unserem Männerbild in einem Zeitfenster verfangen, das eine Sackgasse ist. Unser Männerbild muss in eine neue Zeit aufgehen, in der Männer nicht länger weiß, stark, heterosexuell und mächtig sind. Diese sogenannte „toxische Männlichkeit“ wird in ihrem Scheitern erzählt. Und die Ausstellung fügt Stück für Stück die vielen Männerbilder ein, die es parallel schon immer gegeben hat. Beispiel portugiesische Stierkämpfer, die nie allein gegen den Stier angetreten, sondern in der Gruppe von fünf Männern. „Homosozialität“ nennen Experten diesen Beziehungsverbund von Männern.

Heutige Männlichkeit ist schwul, schwarz und weiblich

Ob in Militär-, Studentenverbindungen oder in patriarchischen Familien-Strukturen: Noch immer nutzen viele Männer ihre Macht aus. Die Ausstellung Masculinites spürt dies auf und zeigt in ihren Bildern teilweise die Grenze des Ertragbaren. Gewalttätige Männer, diskriminierende Männer. Es ist ein Bohren in die Wunde und gerade deshalb eine wichtige Ausstellung.

Doch was ist mit dem positiven Männerbild? Mit dem berüchtigten Gentleman zum Beispiel? Die Ausstellungsmacher inszenieren ihn als britischen Snob, der sich im Gentleman’s Club darüber aufregt, dass die Sitten verfallen und Zeitungen nicht mehr gebügelt oder Münzen abgekocht werden. Hier wird die Ausstellung sehr anglo-amerikanisch und sehr negativ, was mich wenig abholt. Nochmals die taz: „Am Ende bleibt ein fader Beigeschmack. Seltsam museal wirkt die Zusammenstellung, angesichts des ebenso brisanten wie zeitlosen Themas.“ Warum habe man den Schwerpunkt auf die Arbeiten der 1960er bis 1990er gelegt – wo doch das Thema angesichts von #metoo und Donald Trump ebenso starke aktuelle Bezüge hat? Die Auswirkungen dieses nach wie vor an der Macht stehenden konservativen Männlichkeitsbildes reichen bis in die europäischen Jugendzimmer. Vorbilder auch für die junge Generation?

Wie kann ich als anderer Mann, als moderner Mann ein Vorbild sein?

Männlichkeit
Bilder aus der Ausstellung Masculinites, Martin Gropius Bau. Foto: JO

Das ist die Stärke dieser Ausstellung: Dass sie die anderen Männerbilder zeigt und damit befähigt, präsenter zu werden. Im Grunde kann sie die neue Männlichkeit nicht zeigen – sie kann aber dazu ermuntern, dass man(n) sich selber zeigt. Dass sich zum Beispiel schwarze Männer nicht als Nebenfigur, sondern als Mittelpunkt eines Bildes inszenieren. Oder schwule Männer noch stärker in die Öffentlichkeit gehen und noch selbstverständlicher ihre Männlichkeit zeigen – auch wenn leider immer noch dieser Tage Attentäter in Deutschland mit Messern schwule Paare auf offener Straße angreifen.

Weg von der Hypermaskulinität aus Härte, Gewalt, Gefährlichkeit und Abwertung des Weiblichen – hin zu einer nonkonformistischen Männlichkeit; nicht angepasst, nicht normal – eben bunt, vielfältig, divers.

Männlichkeit ist Freiheit – und Verpflichtung

Noch nie hatten es Männer so einfach in Europa, sich neu zu erfinden. Wir können unser Leben viel freier von Konventionen und Erwartungen leben als unsere Väter und Großväter noch vor einigen Jahrzehnten. Wir haben die finanzielle Unabhängigkeit, unseren eigenen Weg zu gehen und unser eigenes Leben zum Beispiel in einer neuen Stadt aufzubauen. Freiheit ist Verpflichtung, dies auch zu tun. Die Ketten abzulegen – oder die Ketten an. Dann ist ein Mann ein Mann.

Masculinities – Liberation through Photography 
Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin