Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Buch „Einfach anziehend“ der Greenpeace-Aktivisten Kirsten Brodde und Alf-Tobias Zahn ist ein ganz wichtiges: Sie kritisieren zu Recht die Entwicklungen in der Mode; unsere Wegwerfmode-Mentalität und unseren enormen Kleiderkonsum. Und dennoch übe ich gleich hier eine große Kritik an dem Buch: Das Autoren-Duo macht es sich mit einer singulären Schuld-Zuweisung an uns Verbraucher zu einfach. Wir sind nicht per se schlechte Menschen, weil wir Trends kaufen.

Die traurige Wahrheit zu Beginn: Die Textilindustrie zähle zu den schmutzigsten Branchen weltweit. In kaum einem Wirtschaftszweig liegen Schein und Sein so weit auseinander“, schrieb das Nachrichten-Magazin Der Spiegel kürzlich. Auch die Autoren Kirsten Brodde und Alf-Tobias Zahn des Buches „Einfach anziehend“ nennen jenes Argument – und führen zum Beweis harte Fakten an:

Einfach anziehend: Fakten und Folgen

  • In den Jahren 2000 bis 2016 hat sich unser Textilverbrauch weltweit verdoppelt. Nach 2014 belasteten 100 Milliarden Kleidungsstücke unseren Planeten.
  • 8 Prozent unseres globalen Treibhaus-Gas-Ausstoßes geht auf das Konto der Textilindustrie – das ist höher als die der internationalen Luftfahrt und Schifffahrt zusammen.
  • Auf Baumwollfeldern kommen 16 Prozent der weltweit eingesetzten Pestizide zum Einsatz.
  • Im Gegensatz dazu stammen gerade mal magere 0,4 Prozent der globalen Baumwoll-Produktion aus ökologischem Anbau.
  • Weniger als 1 Prozent der Kleiderberge wird zu neuer Kleidung recycelt.
  • Aber in 60 Prozent unserer Textilien ist Polyester, was nichts anderes als Plastik ist
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Buch “Einfach anziehend”, copyright: oekonom Verlag

Könnt ihr noch? Ich kann da nicht mehr. Bin ich also Schuld für das Leid und Elend und die Umweltsünden dieser Welt, wenn ich mir nach der Arbeit gelegentlich einen Bummel gönne und etwas kaufe? Wenn ich abends vom Sofa aus im Online-Shop bestelle und der Paketbote es ein paar Tage später vorbeibringt? Laut Alf-Tobias Zahn und Kirsten Brodde: Ja. Dann bin ich zutiefst egoistisch, verantwortungslos und agiere unbewusst. Und genau da muss ich insistieren.

Mein Hauptkritikpunkt: Warum wird mir als Verbraucher die alleinige Schuld zugewiesen?

Wo bleibt die Verantwortung der Politik? Wo ist der Appell an die Politiker in dem Buch der beiden? Warum gibt es nicht schon längst einen Mindestpreis für T-Shirts? So wie ihn zum Beispiel Branchen-Insider wie die Trend-Expertin Li Edelkoort ganz pragmatisch fordern?

Mensch und Natur leiden unter unserem Fast-Fashion-Konsum. Das zeigen die obigen Zahlen eindeutig. Verdreckte Flüsse, vollgemüllte Deponien, Plastik in Fischen – und letztlich auch in uns. Und dennoch kann ich als Individuum nur schwer ein schief geratenes Gesamtsystem wieder gerade rücken. Beispiel Berlin: Hier hat dieser Tage die dritte Primark-Filiale aufgemacht. Immer wieder sehe ich in U-Bahnen die dicken braunen Tüten voll mit Klamotten. Ein T-Shirt für 2,50 Euro, eine Jeans für 17 Euro – alles Preise aus dem Online-Shop – wer hat für so einen günstigen Preis teuer bezahlt?

Es gibt eine Bezeichnung für dieses Phänomen. Es besagt: Wenn viele Leute es falsch machen, fühlt sich Falsch richtig an. Das Deutsche Modeinstitut (DMI) aus Köln hat zwar einen sehr unfreundlichen Geschäftsführer, aber auch kürzlich eine spannende Studie herausgebracht: „Das Problem mit dem ethischen Konsum“. Dieses benennt die paradoxe Situation:

40 Prozent der 14- bis 19-jährigen Mädchen legt Wert auf umweltschonende und nachhaltige Produkte – und ausgerechnet diese Altersgruppe kauft doppelt so oft neue Kleidung wie der Durchschnitt.

Wir haben also ein Vermittlungsproblem: Ausgerechnet unsere Kinder, die die Konsequenzen unseres Massen-Konsums am stärksten klimatisch zu spüren bekommen, befeuern diesen Konsum. Was läuft da falsch in der Vermittlung unserer Werte? Die Antwort: Wir vermitteln unseren Kindern leider, dass es ungemein wichtig ist, was sie besitzen, was sie kaufen und was sie anziehen. Und scheinbar viel zu wenig, dass es viel, viel wichtiger ist, was sie tun, denken und wofür sie sich engagieren.

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Unser Konsum hat weitreichende Auswirkungen auf unsere Umwelt: Ausgerechnet unsere Kinder kaufen fleißig, obwohl sie am meisten von den Folgen betroffen sind. Foto: istock, SasinParaksa

Das GEMA-Phänomen bei Erwachsenen

Wir Erwachsene sind aber auch nicht besser. „GEMA-Phänomene“ nennt es der Betriebswirtschaftsprofessor Timo Busch:

  • G = Gewöhnung: Alle fahren Auto oder fliegen in den Urlaub. Also hinterfragt es der einzelne nicht.
  • E = Entkopplung: Wir wissen, dass die seriösen Wissenschaftler den Klimawandel als große Gefahr sehen – aber in unserem Alltag spielt er eine noch zu unerhebliche Rolle. Es ist wie mit dem Rauchen: Würde jede Zigarette weh tun, gäbe es weniger Raucher.
  • M = Machtlosigkeit: Hier gilt das Denken vieler Menschen: „Ich als Einzelner kann eh nichts verändern.“
  • A = Abspaltung: „Ja, es soll sich etwas ändern – aber bitteschön zuerst bei den anderen. Das Windrad soll nicht im eigenen Garten stehen.“ Die berühmte „Not in my backyard“-Argumentation.

Ich würde hier sogar noch weiter gehen als Timo Busch. Der Bestseller-Autor Rolf Dobelli (dessen Gedanken in meinen Blogbeitrag Denkfehler beim Shoppen eingeflossen sind) nennt in seinem Buch „Die Kunst des klaren Denkens – 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen“ das Almende-Phänomen (Kapitel Warum vernünftige Menschen unvernünftig handeln):

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Die Almende-Problematik. Foto: Unsplash, Karsten Würth

Stellen wir uns eine saftige Wiese – im Schweizerdeutsch Alm genannt – vor, die allen Bauern eines Dorfes zur Verfügung steht. Jeder Bauer versucht natürlich, so viele Kühe wie möglich zum Weiden auf die Alm zu schicken. Das klappt eine Weile ganz gut – doch dann kippt das Ökosystem vor lauter Kuhfladen und abgegraster Flächen.

Jeder Bauer hat versucht, den maximalen Gewinn für sich aus der Alm herauszuziehen. Dieses egoistische Verhalten liegt in unseren Genen: Fast während unserer gesamten Menschheitsgeschichte standen uns unbeschränkte Ressourcen zur Verfügung. Bis vor 10.000 Jahren lebten wir in Kleingruppen von 50 Personen. Erst seit wenigen Generationen sind wir für diesen Planeten zu viele Menschen geworden. Rolf Dobellis trauriges Fazit:

„Jede Politik, die auf solche Eigenverantwortung setzt, ist blauäugig. Wir dürfen nicht mit der sittlichen Vernunft des Menschen rechnen.“

Rolf Dobelli sieht die Lösung daher in: Management. Die Lösung muss demnach sein, die Kosten für die Allgemeinheit zu managen, sprich: in die Preise einzupreisen. Ähnlich wie in der Landwirtschaft. Die Gewinne dürfen nicht länger privat, aber die Kosten allgemein bleiben. Das ist nicht die Lösung. Das muss die Politik als Management angehen. Alles andere ist blauäugig.

Wir können als Individuen weniger kaufen, mehr tauschen, mehr reparieren, weniger anziehen, mehr flicken – aber wir können das Grundproblem nicht alleine stemmen, sondern müssen das gemeinsam angehen.

Jetzt habe ich geschrieben, dass mir „Einfach anziehend“ auch gefällt. Das stimmt, denn es stecken viele kluge Gedanken drin, wie wir Einzelnen bereits anfangen können, bis die Politik endlich über ihre fünf Jahre Legislaturperioden hinaus denkt:

  1. Wir können wieder mehr Kleidungsstücke in unserem Kleiderschrank öfter anziehen. Die berühmten Kleiderschrankleichen minimieren.
  2. Wir können mehr alte Kleidung reparieren lassen. Die Änderungsschneider, wovon es in Berlin so viele gibt, freuen sich.
  3. Wir können Kleidung an Freunde verschenken, statt sie wegzuschmeißen – oder im Schrank nur verstauben zu lassen.
  4. Wir können mehr Gebrauchtes kaufen. Taschen und Accessoires finde ich hierfür ganz besonders geeignet. Weniger gut finde ich als Mann Second-Hand-Läden, weil ich hier selbst mit 1,87m wenig finde.
  5. Ich möchte nicht stricken. Dieser Ratschlag vom Autoren-Duo geht an mir vorbei. Das können andere besser.
  6. Beim Neukauf auf Siegel achten, der GOTS ist zum Beispiel ein Top-Siegel. Schaut mal nach, ob eure Lieblings-Modemarken da schon drin sind.
  7. Wir können uns auch mal etwas leihen. Als Modeblogger werde ich das künftig mehr machen. Es muss nicht immer ein neu gekauftes Outfit pro Instagram-Post sein. Ich bin doch nicht die Herzogin Kate von Cambridge – und selbst die trägt mal was zweimal.

Arme Frauen sind die Hauptleidtragenden

Ein letzter Gedanke: Warum wird eigentlich den Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie so viel Aufmerksamkeit geschenkt – wenn aber die Drogerie-Kette Schlecker pleite geht, werden tausende arbeitsloser Frauen von der Politik im Stich gelassen? Ich sehe hier Parallelen zur Modebranche, in der 85 Prozent der Näher Frauen sind. Und noch dazu am anderen Ende der Welt.

Die Wahrheit ist doch: Die Hauptleidtragenden sind Frauen, arm und weit weg. Diese Frauen haben kaum eine Lobby. Sie sind zigtausende Kilometer entfernt, wir bekommen ihr Leid nicht mit.

Vor einiger Zeit wagte das Film-Projekt Sweatshop, drei junge Bloggerinnen aus Norwegen nach Kambodscha zu fliegen. Nett gesagt: Die jungen Frauen sollten sich die Bedingungen dort vor Ort anschauen. Bös gesagt: Verzogene Erste-Welt-Gören sollten mit der harten Realität in armen Ländern konfrontiert werden und möglichst viel heulen. Die Dramaturgie für den Film ging auf: Die Frauen waren erschüttert. Tränen flossen. Reue folgte. Der Wunsch zur Veränderung war da.

Wer heute auf die Blogs der Frauen schaut, wird leider feststellen: Es hat sich in ihrem Kaufverhalten nicht wirklich etwas geändert.