Neulich stellte Tillmann Prüfer im ZEIT-Magazin eine interessante These auf: Das Home-Office in Corona-Zeiten macht uns noch nachlässiger in unserem Kleidungsstil. „Krisenmode“ nannte er es passend in der Überschrift. Nicht nur unser Haarschnitt verroht durch jetzt geschlossene Frisöre – auch mit unserem Kleidungsstil geht es bergab, weil der konventionelle Zwang, dem Chef und den Kollegen über den Flur zu laufen, entfällt. Der Home-Office-Style wolle alles in einem: ein bisschen elegant für die Video-Konferenz sein, ein bisschen bequem für Untenrum und ein bisschen lässig für den Arbeitstag auf der Couch. Das ist natürlich eine Ausnahme, denn schon bald können wir alle wieder ins Büro. Doch so ganz Unrecht hat Tillmann Prüfer trotzdem nicht: Corona wird unseren Style langfristig verändern. Hoffentlich.

Im Grunde gibt es nur zwei Typen im Home-Office: Diejenigen, die sich morgens anziehen, als ob sie zur Arbeit gehen. Sich fein machen, aufbrezeln, sogar ein Sakko anziehen und den passenden Gürtel zu den Schuhen auswählen, die man dann aber doch nicht anzieht. Und dann gibt es die, die sich nicht aus dem Schlafanzug bemühen, sondern eine Jogginghose drüber ziehen und das Home-Office zur Comfort-Zone machen. Wozu gehörst du?

Ich gehöre zu ersterer Kategorie.

Die Corona-Pandemie hat ganz interessante Auswirkungen auf meinen Style:„Was soll der Geiz, wenn ich demnächst auf der Intensiv-Station liege und um mein Leben kämpfen könnte?“, denke ich und trage meine gesamten Gucci-Gürtel, die ich mir mal gekauft hatte, als Gucci noch den Sale machte. Ich habe sie immer für besondere Anlässe akkurat aufgerollt aufbewahrt, weil ich sie nicht durchs Tragen beschädigen wollte.

Mache jeden Tag zum Goldrand-Tag

Corona hat mir gezeigt: Diese besonderen Anlässe sind jetzt. Mache es nicht wie deine Oma, die das Goldrand-Geschirr immer zu besonderen Feiern aus der Anrichte holte und irgendwann starb und ein perfektes Goldrand-Service hinterließ, weil es eben nicht oft was zum Feiern gab – mache jeden Tag zum Goldrand-Tag. Heute nutze ich das Kaffee-Service meiner verstorbenen Oma täglich. Tillmann Prüfers Kolumne gibt ebenfalls zu denken:

Das Ergebnis ist ein Kleidungsstil, der alles gleichzeitig zu sein versucht: ein bisschen formell, denn man will ja seriös wirken. Ein bisschen elegant, denn man möchte nicht den Eindruck erwecken, man lasse sich gehen. Und zudem soll es bequem wirken, weil doch jeder erkennen soll, wie wohl man sich zu Hause fühlt.

Der Haken an seiner These ist allerdings: Das mochten wir auch vor Corona. Die genannten Trends sind keine Corona-spezifischen Trends, sondern langfristige Trends, die die Männermode seit Jahren bestimmen. Das kann man jedes Jahr aufs Neue bei den Messen rund um die Berlin Fashion Week feststellen.

Nicht nur im Home-Office-Style zu Corona-Zeiten: Bequem soll’s sein

Das Paradebeispiel ist der klassische Herren-Anzug aus dem Baukasten-System, der Drei-Teiler, der sich immer schwieriger an Männer verkaufen lässt, weil sich viele Branchen und Berufe vom klassischen Anzug verabschieden. Erst ging die Krawatte, jetzt geht der Dreiteiler. Zurückbleibt das Bedürfnis nach einer flexiblen Mode, die sich auch gut mit Freizeit-Kleidung kombinieren lässt. Ein Sakko, das nicht zu sehr glänzt und damit auch mit einer Jeans wunderbar zu kombinieren ist. Eine Hose, die auch mal zu einem Polo-Shirt passt und zu einer Party. Aber bitte nichts, das zu sehr nach Versicherungsvertreter oder Sparkassen-Mitarbeiter aussieht.

Corona hat unseren Rückzugsort Wohnung und unsere Home-Wear definitiv verändert.

Plötzlich gibt die Videokonferenz den Blick in unser Allerheiligstes frei. Der Chef und die Kollegen sehen, wie man wohnt. Was man zu Hause trägt. Es ist kein Rückzugsort mehr, wenn die Kamera des Notebooks angeht. Wenn sich die berufstätige Mutter für etwas Ruhe ins Kinderzimmer zurückziehen muss, weil die Kinder und der Mann Küche und Wohnzimmer belegen. So manche Kollegin rettet sich, indem sie nur Ton zulässt. „Ich bin nicht geschminkt“, ist die Entschuldigung. Wir haben verstanden. Das ist auch Okay, denn Grenzen und Rückzugsräume sind wichtig.

Doch ein paar Wochen Home-Office werden unseren Style nicht ändern. Es wird kein Kollege in Jogginghose auch zur Arbeit gehen, wenn wir wieder ins Büro dürfen. Wir werden schnell wieder zum Business as usual zurückkehren, weil wir Schnellvergesser sind. Das zeigen große Skandale, nach denen die Menschen doch wieder bei den Marken kauften, als ob nie etwas gewesen wäre.

Werden wir uns an Solidarität und Eigennutz erinnern?

Das bringt mich zu meiner letzten Frage:

Werden wir auch vergessen, wie manche Marken die Allgemeinheit im Stich gelassen haben? Angeblich nicht ihre Mieten und ihre Kreativ-Agenturen bezahlen wollten, weil Corona die Bilanz des ersten Quartals so vermasselte?

Die Corona-Krise hat die Textilwirtschaft besonders hart getroffen. Die Auswirkungen werden noch weit bis ins nächste Jahr hinein spürbar sein. Denn wenn Menschen weniger Geld in den Taschen haben, kaufen sie auch keine Kleidung, die als „Luxusware“ bei vielen gilt. Andererseits erleben wir bereits in China, dass die Menschen dort einen enormen Konsum-Nachholbedarf haben. Luxusmarken wie Louis Vuitton, Fendi oder Dior machen gerade riesige Geschäfte, wie das Wall Street Journal berichtet. Die Menschen kaufen die Läden leer, als wäre es Klopapier, Ingwer und Mehl.

Ich hoffe nicht, dass wir vergessen, welche Unternehmen sich solidarisch gezeigt haben und ihre Produktion und ihre Unternehmensstrategie an diese historischen Bedingungen angepasst haben. Ich selbst habe genau verfolgt, welche deutschen Sportmarken ihre Prinzipien und Werte – wie Fairness und Solidarität – sofort hinter die finanziellen Interessen gestellt haben. Und welche große amerikanische Sportmarke ihren Firmenslogan „Just do it“, direkt mit Leben füllte und von Kleidung auf das Nähen von Atemschutzmasken umgestellt hat. Okay, reden wir nicht drum herum: Es geht um Adidas und Nike, siehe hier den interessanten Artikel in der W&V. Der Adidas-Fall hat die ARD zu diesem Kommentar von Holger Ohmstedt bewogen, den ich besser nicht formulieren kann.

Ich hoffe, dass wir Verbraucher nach Corona noch viel mehr um unsere Macht und unseren Einfluss wissen.

Unsere täglichen kleinen Kaufentscheidungen können das richtige oder das falsche System unterstützen. Du hast die Wahl. Es mehren sich die Stimmen, die das Corona-Virus mit dem Klimawandel in Zusammenhang stellen. Eine interessante Theorie: Wilde Tiere haben Viren, die auf uns Menschen überspringen, weil sie mehr und mehr in ihren Lebensräumen von uns Menschen zurückgedrängt werden. Die Natur hat keinen Platz und rächt sich, indem sie sich Platz macht. Müssen erst unsere Pol-Kappen schmelzen und der gesamte Regenwald im Amazonas und auf Borneo gerodet sein, damit wir verstehen, dass wir im Einklang mit nicht auf Kosten der Natur leben müssen?

„Buy less“, sagt Vivienne Westwood in dieser sehenswerten ARTE-Dokumentation über die Magie der Museen und verkauft das ironischerweise als T-Shirt, das man dann doch bitte als „gut ausgewähltes“ Fashion-Piece kaufen soll (sehe nur ich diese Ironie?). Ich selbst habe auch in der Corona-Quarantäne weiterhin Mode bestellt. Ich gebe zu, dass ich mir etwas dekadent vorkam, als ein Paket mit Turnschuhen aus Vietnam eintraf. Aber im Grunde war auch das eine Unterstützung für die von der Krise gebeutelten Textilwirtschaft. Und dabei geht das Geld nicht nur in die Taschen großer Marken, sondern es kommt auch den Händlern und Näherinnen zugute, die jetzt unter Stornierungen in Millionenhöhen besonders leiden.

Krisen treffen immer besonders die Armen hart.

Deswegen wäre es wünschenswert, wenn wir alle bewusster kaufen: Nicht aufhören zu kaufen, sondern das Richtige kaufen – das T-Shirt aus Bio-Baumwolle ist schon mal besser als das T-Shirt aus normaler Baumwolle. Auf Polyester und Viskose zu verzichten ist schon viel besser, weil beide Stoffe auf Kosten der Natur hergestellt werden (hier mehr dazu). Natürlich ist es toll, wenn ihr auch grüne Mode unterstützt oder bei euren Händlern die Bio-Linie. Es ist viel getan, wenn das viele Menschen machen. Deshalb halte ich das nicht nur für ein Feigenblatt, wenn große Marken hier eigene Linien rausbringen. Wir Verbraucher können hier mit unseren Kaufentscheidungen die Richtung vorgeben. So ist auch im Lebensmittelbereich Bio gewachsen und so kann auch nachhaltige Mode wachsen.

Corona ist ohne Frage ein Einschnitt in unser Leben und unseren Konsum. Es hat uns nicht nur zum Entschleunigen und Stillstand gezwungen – es hat uns auch zum Nachdenken angeregt. Ein „Weiter so wie bisher“ wird hoffentlich nicht die Erkenntnis daraus sein.