Die Umkleidekabine der Zukunft soll Kunden den Kleidungskauf noch einfacher machen. Erfunden hat sie das Start-up Phizzard aus Berlin. Von klugen Spiegeln, endlosen Regalen – und der Zukunft des Shoppings.

Die Umkleidekabine der Zukunft steht in Berlin-Adlershof, eine halbe Autostunde vom Stadtzentrum entfernt, im „Gründerzentrum für IT und Medien“. Sie wartet im ersten Stock, am Ende eines langen Ganges, vorbei an Programmierern in verwaschenen „Star Wars“-Shirts, etlichen Monitoren auf den Tischen und Kabelgewirr am Boden. Nichts sieht hier nach Mode-Fachgeschäft aus – und doch wartet hier die Erfindung, die für selbige Händler die Zukunft bedeuten könnte: „Phizzard“ heißt das Unternehmen, das 2014 die nach eigenen Angaben erste smarte Umkleidekabine entwickelt hat.

Der Spiegel ist gleichzeitig Touchscreen

Der Name setzt sich zusammen aus den englischen Wörtern „size“ (Größe), „fit“ (passen) und „wizard“ (Assistent und gleichzeitig Zauberer). Geschäftsführer Peer Hohn, ein ruhiger, besonnener und erfahrener Mann aus dem Fashion-eCommerce, führt seine Zauberei am Prototypen im Konferenzraum vor: „Hier am Spiegel, der gleichzeitig Touchscreen ist, können Sie den Barcode auf dem Etikett des Kleidungsstücks scannen.“

Umkleidekabine der Zukunft Phizzard
Phizzard Geschäftsführer Peer Hohn in der Umkleidekabine der Zukunft. Foto: Jörg Oberwittler

Auf dem Spiegel erscheint nun das Bild vom blauen T-Shirt. Des Weiteren präsentiert der Spiegel ähnliche Artikel. Dieser „Smart Mirror“ zeigt, in welchen Größen und auch Farben es sonst noch im Geschäft erhältlich ist. Größe M passt leider nicht. Größe L wäre im Lager, und in Rot wäre es außerdem im Online-Shop erhältlich. „Jetzt können Sie hier unten drücken und es wird automatisch eine Verkäuferin gerufen, die Ihnen das Shirt eine Nummer größer bringt.“

Damit entfällt das lästige Rufen aus der Umkleidekabine, das sehnsuchtsvolle Schielen nach einer Verkäuferin, während man den Vorhang im Neonlicht des Ladens schüchtern vor den nackten Oberkörper zuppelt. „Wir nennen den Touchscreen für den Endverbraucher ‚James’, weil er wie ein Butler fungiert, und das Handgerät, das die Verkäufer haben, ‚Eva’. Das steht für Elektronischer Verkaufs-Assistent.“

Smarte Umkleidekabine noch Zukunftsmusik

James ruft Eva – das klingt in den Ohren von „König Kunde“ äußerst vielversprechend. Statt wie früher von der Verkäuferin zu hören: „Nur was da hängt“, kann diese jetzt flöten: „Im Online-Shop hätten wir es noch in Ihrer Größe da. Wir schicken es Ihnen gern nach Hause.“ Doch warum muss der Kunde erst an den Stadtrand fahren, um die Umkleidekabine der Zukunft in Aktion zu erleben? Warum ist dieser Service nicht schon längst flächendeckend im Einsatz, damit der stationäre Handel dem Online-Handel endlich die Stirn bieten kann, der ihm immer mehr Marktanteile abluchst?

Bereits jetzt wird jedes fünfte Kleidungsstück online gekauft, informiert das Textilpanel der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) aus Nürnberg. Die Studie „Fashion-Fachhandel 2025“ des Instituts für Handelsforschung (IFH) aus Köln prognostiziert, dass dies bis 2025 sogar jedes dritte sein wird. Jedes dritte!

„Niemand möchte der erste sein. Alle scheuen die Kosten, warten ab und schauen, wie es sich entwickelt.“

Bei der Frage lächelt Peer Hohn müde. Er versteht es selber nicht, dann schiebt er nach einer langen Pause nach: „Niemand möchte der erste sein. Alle scheuen die Kosten, warten ab und schauen, wie es sich entwickelt.“ Ob Smart Mirrors, elektronische Verkaufsassistenten oder virtuelles Fitting – die technologischen Errungenschaften rund um die Umkleidekabine klingen beeindruckend: Kunden können Touchscreens berühren, sich direkt auf der Ladenfläche sogar vor einen Spiegel stellen und dann das Spiegelbild das T-Shirt anprobieren lassen (virtuelles Fitting) und abschließend mit ihrem Smartphone bezahlen.

80 Prozent der Laden-Besucher kaufen nichts

In den Ohren von Händlern klingen sie vor allem: teuer. 200 Euro pro smarter Umkleidekabine im Monat kalkuliert Phizzard. Dafür muss man erst mal ein paar T-Shirts zusätzlich verkaufen. „80 Prozent der Kunden verlassen den Laden, ohne etwas zu kaufen. Mittels Umfragen haben wir herausgefunden, dass dies in der Regel daran liegt, dass die Kunden nicht das finden, was sie suchen. Deshalb ist es so wichtig hier die Conversion-Rate, also die Kaufrate, zu steigern“, entgegnet Hohn.

Endloses Regal Phizzard
Endloses Regal: Der Schuhhersteller Gabor verbindet so Offline- und Online-Handel. Foto: JO

Eine weitere der smarten Lösungen aus dem Hause Phizzard ist das so genannte „endlose Regal“. Auch hier können Kunden per Tablet oder einem Standgerät im Laden einsehen, ob ihr Wunschartikel noch in anderen Größen im Lager oder Online-Shop wartet. Eine Erfindung, die so manchen frustvollen Einkaufsstraßen-Besuch doch noch zum Erfolg führen würde. Fünf Jeans anprobiert. Keine wollte passen. Wieder ohne Einkaufstüte nach Hause. Jetzt kann der Kunde auch im Online-Handel mitstöbern und seinen Wunsch-Artikel bequem nach Hause liefern lassen.

Unternehmen wie Phizzard sind mit diesen Lösungen deutlich erfolgreicher als mit der smarten Umkleidekabine. Ob Damenschuh-Hersteller oder Geschäfte für Fantasy-Kostüme, wie Spartaner-Umhänge oder Elben-Kleider: vielerorts sind diese bereits erfolgreich im Einsatz. „Wir haben Geschäftskunden, die dreißig Prozent ihres Umsatzes über das endlose Regal machen“, berichtet Peer Hohn.

Engloses Regal Endless Aisle Peer Hohn
Peer Hohn vor dem Endlosen Regal. Foto: Jörg Oberwittler

Am Ende der Vorführung sitzt er wieder am Konferenztisch und blickt in Richtung Fenster und in die Zukunft. Aus seiner Erfahrung als Geschäftsführer eines e-Commerce-Unternehmens weiß er: „Mode ist zudem ein emotionales Produkt, sie will gefunden und berührt werden. Kunden werden deshalb auch in Zukunft immer in Geschäfte gehen.“ Ihn bekräftigt, dass auch Internet-Shops so genannte Flagship-Stores in den Fußgängerzonen eröffnen und hier ihre Marke erlebbar machen.

Das hat auch Amazon erkannt und in seiner Heimatstadt Seattle einen Pilot-Store eröffnet, bei dem Kunden sogar ganz Kassierer und Kasse einkaufen können und am Ende per Lichtschranke automatisch bezahlen. Zwanzig Kunden streiften durch den Laden – dann stürzte das System wegen Überforderung ab. Zu viel Zukunft für den Anfang.  

Anmerkung: Eine längere Version dieses Artikels erschien am 22. Oktober 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS): Die kluge Kabine. Ein Porträt über Phizzard habe ich außerdem für das Online-Kundenmagazin Berliner Akzente geschrieben: James ruft Eva.